Studia Linguistica XXV 1971
Die "Emische" Sprachwissenschaft
1. In der Sprachforschung unserer Zeit tritt verglichen mit fruher viel neues terminologisches Sprachgut auf, und zwar vor allem Termini mit dem Ableitungssuffix em (engl. eme, russ. ema, finn. eemi). Diese terminologische Wortbildung hat einen Umfang angenommen, dass sie geradezu als bezeichnend fur die jungste Forschung gelten kann; ja, das Suffix hat wegen seiner Häufigheit sogar selbst schon die Stellung eines Terminus bekommensiehe hierzu das Termenwörterbuch von 0. S. Ahmatova ,,Slovar lingvistitseskih terminov" (Moskva 1966), wo es als eigenes Stichwort auftrittes wird als ,,Strukfurelement, Typ, sprachliche Struktureinheit" bezeichnet. Ferner lesen wir bei Mario Pei ,,Glossary of Linguistic Terminology" (New York 1966): ,,-eme A suffix used in linguistics to indicate a significantly distinctive unit of structure in a language".
2. Der erste Forscher der wichtige Termini aus der hier herausgegriffenen Gruppe vorbrachte, ist m.W. der schwedische Philologe Adolf Noreen (18541925). Er hat die heute allgemein bekannten Termini Morphem, Semem (von ihm erfunden) sowie Phonem (J. Baudouin de Courtenay) eingeführt, wobei er letzteres allerdings vom heutigen Gebrauch etwas abweichend definierte. Das terminologische Wortgut auf -em hat sich sodann u.a. in der Produktion von L. Bloomfield, Louis Hjelmslev und K. Pike betrachtlich vermehrt. Trotz seiner Lückenhaftigkeit wird das folgende Verzeichnis von der Vielzahl der terminologischen Wortbildungen dieses Typs eine Vorstellung geben: Behaviorem (K. Pike), Episemem (L. Bloomfield), Glossem (L. Hjelmslev), Graphem (A. Penttila), Grammatem (V. Tauli), Grammem (A. Juilland), Intonem, Kategorem, Kenem (L. Hjelmslev), Kinem, Kronem (D. Jones), Lexem (B. L. Whorf), Morphonem (~Morphophonem), Monem (H. FreiA. Martinet), Motiphem (K. Pike) Noem (L. Bloomfield), Phonasthem, Phormem, Phrasem, Phemem (L. Bloomfield), Plerem (L. Hjelmslev), Psykem (U. Saarnio), Semantem, Stronem (D. Jones), Syntagmem (K. Pike), Syntaksem, Tagmem (L. Bloomfield), Taxem (L. Bloomfield), Tonem (D. Jones), Typem (G. Hammarstrom).
3. Als Zeichen einer gewissen systematischen Tendenz gibt es in der ,,emischen' Sprachwissenschaft neben einigen Ableitungen auf -em auch kurzere Termini mit demselben Wortstamm wie z.B. Phon ( Phonem), Graph (Graphem), Lex (Lexem), Sem (V. Skalicka, vgl. Semem), Tagm (Tagmem). Alle ,,Eme" haben jedoch kein Paarwort (z.B. gibt es zu Taxem kein Tax und anderseits zu Syntax kein Syntaxem).
4. Eine gewisse Systematik dieser Terminologie auf em-Basis zeigt sich ferner in dem Umstand, dass es neben den wichtigeren Termini auf -em solche gibt, die mit dem Prafix allo gebildet sind (< gr. alloz 'anders, verschieden'), und deren zweiter Teil aus einem der erwahnten terminologischen Kurzworter besteht so etwa Allpohon, -graph, -morph, -sem und -taxe.
5. Dieses terminologische Wortgut, u.zw. vor allem das zentrale Wortpaar Phon und Phonem ist unzahlige Male und in verschiedenster Weise behandelt worden. Auch im Folgenden soll es im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
6. Mit der Einführung von solchen Termpaaren wie Phon und Phonem u.a. war man bestrebt, durch verschiedene Termini die im Gebrauch einzelner Sprachen auffretenden realen Bildungen und deren Mengen zu benennen. In einer Darlegung (Alfred Schmitt ,,Über den Begriff des Lautes", Archiv für vergleichende Phonetik, 1. Abt. Bd II, 1938, s. 6) hat dieser Zweck wie folgt Ausdruck gefunden. Es gibt ,,zwei grundsätzlich verschiedene, obwohl tatsächlich unlosbar miteinander verbundene Gebiete - - -: das Sprechen und die Sprache. Das Gebiet des Sprechens wird gebildet von allen einzelnen tatsächlich erfolgenden Sprechausserungen; das Gebiet der Sprache ist ein System von Normen, die innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft anerkannte Geltung haben. Zunächst sei nur festgestellt, dass der Fachausdruck ,,Laut" einen verschiedenen Begriff bezeichnet, je nachdem, auf welches der beiden Gebiete er bezogen ist. Wenn wir vorlaufig einmal und in ganz unbestimmter Weise den ,,Laut" als ,,kleinste Einheit" definieren, so konnen wir eine solche kleinste Einheit aus dem Gebiet des Sprechens als ,,Sprechlaut" bezeichnen, eine kleinste Einheit aus dem Gebiet der Sprache als ,,Sprachlaut"."
Dieses Bestreben hat sodannsoweit es sich um Sprache als akustische Erscheinung handeltdazu geführt, dass sich zwei verschiedene Wissenszweige ausgebildet haben, wobei sich der eine der Untersuchung der realen akustischen Gebilde zuordnet (und der Phonetik benannt wurde) sowie der zweite, der der Darstellung der wichtigste Eme, namlich der Phoneme zugehort (und fur den die Bezeichnungen Phonologie ~ Phonemik ~ Phonematik benutzt werden). Nachdem sich jedoch eine separate Darstellung von Phonetik und Phonologie trotzdem nicht als einfach herausgestellt hat, sind vor allem in letzter Zeit kritische Stimmen laut geworden, die geltend machen, dass es nicht zweckmässig sei, die mit System und Funktion befasste Phonologie und die mit der Lautsubstanz befasste Phonetik zu separieren. So erklärt u.a. Bertil Malmberg in seinem neuen Werk ,,Introduktion till fonetiken som vetenskap" (Lund 1969) S.1011: ,,Formen bestämmer substansen, och substansens variationsmöjligheter betingar formen. En analys av den ena utan samtidigt beaktande av den andra låter sig knappast restlöst genomföra. Vi har redan framhållit, att en analys av ett språks ,,ljud" utan kunskap om eller hänsyn till dess system inte ar möjlig. Då det sålunda är både teoretiskt svårmotiverat och praktiskt ytterst besvärligt att i forskning och undervisning genomföra den uppdelning i fonologi (formanalys) och fonetik (substansanalys), som vi av vissa forskare rekommenderas, har förf. till denna skrift valt att i anslutning till ett hävdvunnet språkbruk beteckna hela vetenskapen om det språkliga uttrycket (dock blott i dettas talade form) som fonetik."
7. Wer sich nun mit der hierin leicht übertreibender Weise ,,emisch" benannten Sprachwissenschaft beschäftigt, kann sich nicht immer des Eindruckes erwehren, dass bei ihrer Ausübung in Vergessenheit gerät, dass die Sprachwissenschaft letztlich eine unverkennbar empirische Wissenschaft ist. (So z.B. ist Barron Brainard ,,On Marcus' Definition of Phoneme", Cahiers linguistiques 1969, zum grossen Teil rein logische Operationen.) Gäbe esum bei diesen Hauptgruppen der Sprachen zu bleibenkein hörbares Sprechen und keine sichtbare Schrift, so könnte es auch keinerlei Sprachwissenschaft geben. Dies ist der Ausgangspunkt, und ihm gemäss muss sich der Sprachforscher derjenigen Realität gegenüber verhalten, die gebildet ist aus dem Sprechen (dem hörbaren Ergebnis des Sprachgebrauchs), dem Reden (der Tätigkeit des Sprechens), der Schrift (sichtbare Kennzeichnung) und dem Schreiben (Tätigkeit des Schreibens), dem Hören und Verstehen der gesprochenen Sprache, dem Lesen (lautem und leisem) der Schrift und dem damit verbundone Verstehen. Er muss sich all diesem gegenüber mit anderen Worten prinzipiell genauso verhalten, wie das jeder Wissenschaftler seinem realen Untersuchungsobjekt gegenüber ganz allgemein tut. Es gehört also zum Ausgangspunkt eine unbedingte Wirklichkeitsbasis.
Mit der letztlichen Natur der Sprachwissenschaft in Widerspruch steht es, wenn man z.B. die Position einnimmt, dass die Sprache als reine Form Gegenstand der Linguistik sei, oder dass das System der Sprache ohne jede Rücksichtnahme auf die Substanz darzustellen sei. Zwar mag es philologisch gesehen belanglos sein, ob wir mit einem Bleistift, der Schreibmaschine oder sonstwie schreibendie so entstehende Schrift kann also im materiellen Sinne betrachtet verschiedenartig sein, wenn es sich aber um Schriftsprache handelt, muss diese im materiellen Sinne insofern gleichartig sein, dass sie s i c h t b a r und somit real ist. Die Form, die der sprachliche Ausdruck hat, ist mithin stets die Form i r g e n d e i n e r Sache, so unerheblich diese Sache dann im sprachwissenschaftlichen Sinne gesehen auch immer sein mag. Es bedarf ja keines Wortes, dass wohl kein Mensch jemanden ernstnehmen würde, der sich auf dem Gebiet einer anderen empirischen Wissenschaft eine entsprechende Definition, die nur auf die Form Bezug nimmt, erlauben würde.
Ebenso wie der empirische Wissenschaftler allgemein hat sich der Sprachforscher einer Beschäftigung mit solchen Erscheinungen zu entbalten, zu deren Heranziehung weder Anlass noch Voraussetzung besteht. Wenn nämlich in der emischen Sprachwissenschaft, wie das häufig zu beobachten ist, Begriffe wie Kontinuum und unendlich auftauchen, dann machen solche Darstellungen nahezu den Eindruck des Unverständnisses. Es mag auf den Laien vielleicht einen feierlichen Eindruck machen, wenn erklärt wird, wie sich eine unendliche Menge richtiger Sätze z.B. in englischer Sprache hervorbringen oder generieren lassen. Doch selbst wenn die gesamte Menschheit nichts anderes getan hätte und weiterhin tun würde, als richtige englische Sätze zu generieren, so würde auch dann nichts anderes als eine endliche Menge solcher Sätze hervorgebracht. Es reicht also ohne weiteres aus zu sagen, dass sich unter Befolgung der und der Regeln in der und der Art augenblicklich und auf absehbare Zeit richtige Sätze z.B. in englischer Sprache bilden, d.i. generieren lassen.
Ebenso wichtig ist es, dass die Sprachwissenschaft wie auch die anderen empirischen Wissenschaften eine so exakte Terminologie wie möglich anstrebt. So etwa ist eine in absoluter Form und ohne Rücksicht auf die Notwendigkeit von Ergänzungen achtende Erstellung von ergänzungsbedürftigen Termini wenig empfehlenswert. Sehr häufig begegnet man im Schrifttum der heutigen emischen Sprachwissenschaft der Behauptung, die ausserdem noch als Profundum verbrämt wird, dass die sprachlichen Kennzeichnungen willkürlich seien. So ist z.B. fi. hevonen auf schwedisch häst, deutsch das Pferd, engl. horse, russ. Iosad usf. Nachdem diese Wörter jedoch vom Standpunkt des Sprechers der betr. Sprache keineswegs willkürlich sind, d.h. dass er sie nicht frei festsetzen kann, und nachdem viele Wörter sogar onomatopoetisch sind (wie z.B. der Kuckuck), ist es unumgänglich, den Terminus willkürlich" vorsichtiger zu verwenden und ihn zu ergänzen. Unüberprüft darf er in wissenschaftliche Texte nicht übernommen werden, ob ihn nun Auktoritäten gebrauchen oder nicht.
Das Bestreben, das in den obenerwähnten Ergänzungen und Reformen der Terminologie zum Ausdruck kommt, ist vor allem in Hinblick auf das letzterwähnte Prinzip von grösster Bedeutung. Es ist anzunehmen, dass es ein voll annehmbares, ernstes Ziel hat. Was mit diesen Versuchen erreicht worden ist, soll im Folgenden untersucht werden. Wie bereits ausgeführt wollen wir uns hauptsächlich mit dem ältesten terminologischen Wortpaar Phon und Phonem beschäftigen, also den bei der akustischen Untersuchung der Sprache allerhäufigsten Einheiten.
8. Als Ausgangspunkt wähle ich einen Absatz aus einem Werk, das die moderne Sprachwissenschaft vertritt, nämlich André Martinets Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft" (Stuttgart 1963). Dort heisst es S. 32: Wenn mansagt, dass eine Äussserung 34 Phoneme aufweist, so meint man, dass sie 34 aufeinanderfolgende Abschnitte zeigt, die sich jeder als ein bestimmtes Phonem identifizieren lassen, nicht aber, dass die aufeinanderfolgenden Einheiten samt und sonders verschiedene Einheiten seien: Die Äusserung c'est une bonne bière /s et ün bòn bier/ weist 12 Phoneme auf in dem Sinne, dass sie 12 aufeinanderfolgende Abschnitte zeigt, die sich jeder als ein bestimmtes Phonem identifizieren lassen, aber sie verwendet zweimal das Phonem /n, zweimal das Phonem /b/, zweimal das Phonem /e/, macht also von nur neun verschiedenen Phonemen Gebrauch."
Martinet zieht in diesen Sätzen nicht den Terminus Phon heran, aber trotzdem kommen die beiden Gebildegruppen, zu deren Beherrschung diese Termini gemacht worden sind, zum Vorschein. Denn einerseits hat er also Phoneme, die Abschnitte oder Einheiten sind (im ersteren Falle 34, im letzteren 12), anderseits hat er Phoneme, von denen er im letzteren Satz 9 Stück aufzählt. Hätte ein anderer als Martinet diesen Absatz geschrieben, so wäre wohl auch der Terminus Phon benutzt und es wäre gesagt worden, dass es sich im ersten Falle um 34, im letzteren um 12 Phone handelt. Es gibt auch Autoren, die sagen, dass es sich im ersteren Falle um 34 konkrete Phonem-Manifestationen handelt (so z.B. H. A. Koefoed Sprog og sprogvidenskab", Oslo 1968, S. 25), oder 34 Sprechlaute (Alfred Schmitt; Koefoed S. 26: rent fonetiske talelyd") und die bei dem letzteren Beispiel von 12 konkreten Phonem-Manifestationen ~ Sprechlaute, aber von nur 9 Phonemen oder Sprachlauten (Koefoed: sproglyd) ~ Phonoiden sprechen.
9. Es gibt also mehr als einen verwendeten und verwendbaren Parallelterminus für die gemeinten Gebildepaare. Die Vielfalt nimmt weiter zu, wenn wir bedenken, dass jeder von ihnen in solchen Sprachen, die einen Artikel verwenden, zumindest in dreierlei Gestalt benutzt wird. Es gibt ein Phonem, das Phonem und Phoneme (engl. a phoneme, the phoneme, phonemes; im Beispiel von Martinet wird erwähnt ein Phonem, Phoneme, aber nicht das Phonem), entsprechend ein Phon, das Phon, Phone; a phone, the phone, phones. Der Gebrauch des bestimmten oder unbestimmten Artikels (oder im Schwedischen der bestimmten bzw. unbestimmten Form) stammt aus den natürlichen Sprachen und unterliegt deren etwas schwankendem Regelwerk. Unten wird eine Darstellungsweise angegeben, bei der Artikel nicht vorkommen.
10. Kommen wir nun auf Martinets Zitat zurück, in Bezug auf welches auch noch anderes zu sagen bleibt. Zunächst: es enthält drei Wendungen der Umgangssprache, die in bestimmter Weise zu verstehen sind und die sich wahrscheinlich vereinfachen lassen. Es heisst da u.a.: dass eine Äusserung 34 Phoneme aufweist,34 aufeinanderfolgende Abschnitte zeigt, die sich jeder als ein bestimmtes Phonem identifizieren lassen". Nachdem sich das so verstehen lässt, dass von jedem Abschnitt gesagt werden kann: dieser Abschnitt ist ein Phonem (z.B. ein /a/), dieser Abschnitt ist auch ein Phonem (z.B. ein /e/) usf., wäre es zweifellos einfacher, wenn die Ausdrücke der natürlichen Sprache aufweisen, zeigen und sich identifizieren lassen sowie ihnen vergleichbare Ausdrücke bei sprachwissenschaftlichen Darstellungen durch die Äusserung ersetzt würden, dass die einzelnen zeigbaren" realen Gebilde, von denen es im angeführten Beispiel 12 Stück gibt, als Elemente zu bestimmten Phonemmengen (~ Phonmengen) gehören. Durch die Termini Element, zu einer Menge gebören" und Menge wären auch die so reichlich verwendeten Ausdrücke wie das Verb sich manifestieren und dessen Synonyme sich aktualisieren, exponieren, konkretisieren, realisieren, materialisieren und repräsentieren zu ersetzen. Sie sind zu so verschwommenen Modewörtern geworden, dass nicht mehr sorgfältig genug bedacht wird, ob sie an die Stelle ihrer Verwendung auch wirklich passen. Ein Beispiel: In Bezug auf ihre Dauer können Vokale unzweifelhaft variieren, kurz oder länger sein. Die Dauer ist eine für den Vokal notwendige Eigenschaft (Vokale ohne Quantität gibt es nicht). Es ist weiter hin klar, dass die Vokale die kurzen so wie die längeren, wenn sie gleichartig sind, zu gleichen Mengen gehörig aufgefasst werden müssen. Die Menge eines Vokals kann natürlich verschiedene Teilmengen besitzen (kurze, halblange, lange usw. Vokale). In den wahrnehmbaren Worten kann die Dauer eines Vokals überhaupt nicht willkürlich sein. So ist z.B. der Vokal der ersten Silbe des finnischen wahrnehmbaren Wortes kari 'Riff, Klippe' nicht dehnbar und darf nicht so lang sein, dass das wahrnehmbare Wort zu kaari 'Bogen, Kreis' wird, wo der Vokal dehnbar ist. Auch muss, so weit wir bei der Gemeinsprache verbleiben wollen, die Quantität des i in der zweiten Silbe von kari kurz bleiben und eine gewisse Grenze darf nicht überschreiten werden (sowohl karì als karí sind mundartlich). Es ist nun schwer zu verstehen, wie die Menge gebildet ist, wenn man der Ansicht ist, dass lange Vokale Manifestationen aus Kurzvokalen nebst Dehnungsphonem sind. Diese Ansicht ist ebenso eigentümlich wie die Ansicht, dass 'langer Mann' nicht das logische Produkt des Begriffes Mann und des Begriffes lang wäre, sondern eine Manifestation bzw. Realisation eines kurzen Mannes und der Länge. Ein langer Vokal ist natürlich sowohl Vokal als auch lang (ein logisches Produkt), nicht aber kurzer Vokal plus Längen-Phonem. Wer die Begriffe Menge und Element der Menge benutzt, muss klar denken. Ein zweites Beispiel: Es ist auch schwer verständlich, wie die Phonemmengen gebildet werden, wenn z.B. die Zahl der VoLale im Finnischen auf die fünf Phoneme a, e, i, o, u reduziert wird auf Grund der Tatsache, dass die Vokale ü, ä, ö nur in Wörtern mit Vordervokal aufireten. Die letztgenannte Tatsache charakterisiert das Lautsystem des Finnischen, hat aber nichts mit den Mengen zu tun, die beim Beobachten des Sprechens von Finnisch entstehen. Ein drittes Beispiel: Es ist auch schwer, mit Klarheit zu sagen, wie die Menge gebildet ist, wenn man sagen kann
realen Gebilde, von denen es im angeführten Beispiel 12 Stück gibt, als Elemente zu bestimmten Phonemmengen (~ Phonmengen) gehören. Durch die Termini Element, zu einer Menge gebören" und Menge wären auch die so reichlich verwendeten Ausdrücke wie das Verb sich manifestieren und dessen Synonyme sich aktualisieren, exponieren, konkretisieren, realisieren, materialisieren und repräsentieren zu ersetzen. Sie sind zu so verschwommenen Modewörtern geworden, dass nicht mehr sorgfältig genug bedacht wird, ob sie an die Stelle ihrer Verwendung auch wirklich passen. Ein Beispiel: In Bezug auf ihre Dauer können Vokale unzweifelhaft variieren, kurz oder länger sein. Die Dauer ist eine für den Vokal notwendige Eigenschaft (Vokale ohne Quantität gibt es nicht). Es ist weiter hin klar, dass die Vokale die kurzen so wie die längeren, wenn sie gleichartig sind, zu gleichen Mengen gehörig aufgefasst werden müssen. Die Menge eines Vokals kann natürlich verschiedene Teilmengen besitzen (kurze, halblange, lange usw. Vokale). In den wahrnehmbaren Worten kann die Dauer eines Vokals überhaupt nicht willkürlich sein. So ist z.B. der Vokal der ersten Silbe des finnischen wahrnehmbaren Wortes kari 'Riff, Klippe' nicht dehnbar und darf nicht so lang sein, dass das wahrnehmbare Wort zu kaari 'Bogen, Kreis' wird, wo der Vokal dehnbar ist. Auch muss, so weit wir bei der Gemeinsprache verbleiben wollen, die Quantität des i in der zweiten Silbe von kari kurz bleiben und eine gewisse Grenze darf nicht überschreiten werden (sowohl karì als karí sind mundartlich). Es ist nun schwer zu verstehen, wie die Menge gebildet ist, wenn man der Ansicht ist, dass lange Vokale Manifestationen aus Kurzvokalen nebst Dehnungsphonem sind. Diese Ansicht ist ebenso eigentümlich wie die Ansicht, dass 'langer Mann' nicht das logische Produkt des Begriffes Mann und des Begriffes lang wäre, sondern eine Manifestation bzw. Realisation eines kurzen Mannes und der Länge. Ein langer Vokal ist natürlich sowohl Vokal als auch lang (ein logisches Produkt), nicht aber kurzer Vokal plus Längen-Phonem. Wer die Begriffe Menge und Element der Menge benutzt, muss klar denken. Ein zweites Beispiel: Es ist auch schwer verständlich, wie die Phonemmengen gebildet werden, wenn z.B. die Zahl der VoLale im Finnischen auf die fünf Phoneme a, e, i, o, u reduziert wird auf Grund der Tatsache, dass die Vokale ü, ä, ö nur in Wörtern mit Vordervokal aufireten. Die letztgenannte Tatsache charakterisiert das Lautsystem des Finnischen, hat aber nichts mit den Mengen zu tun, die beim Beobachten des Sprechens von Finnisch entstehen. Ein drittes Beispiel: Es ist auch schwer, mit Klarheit zu sagen, wie die Menge gebildet ist, wenn man sagen kann dass ein s-artiger Laut im Schwedischen die Realisation der Konsonantenkombination rs ist. Hier wird ja die geschriebene Sprache mit hineingezogen. Die Buchstabenverbindung rs wird im Reichsschwedischen zwar gewöhnlich ungefähr so gelesen wie die Buchstabenverbindung sj (eine Ausnahme machen Sänger und ausserordentlich sorgfältige Leser), aber vom Einflussbereich des Schriftgebrauches sollte man sich bei Betrachtung der akustischen Sprache unbedingt freizumachen versuchen. Und noch ein viertes Beispiel: Die Realisation eines Phonems muss eine Zaubertrick sein, wenn man ein Phonem als ein anderes Phonem realisiert. (Siehe A. Martinet Realisations identiques de phonemes differents, Linguistique 1969 S. 127129.) Solche Realisationen sind einfach unmöglich. Eine Realisation" des Ranunculus acer kann nicht eine Realisation" der Fragaria vesca sein.
In dieser Untersuchung wollen wir uns indessen nicht eingehender mit Fragen dieser Art befassen, anhand derer die Segmentierung des Redestromes, die Identifizierung der im Redestrom auftretenden Phoneme, die Darstellung der persegmentalen (ein zweckmässigerer Terminus als der übliche suprasegmental) Eigenschaften wie Betonung, Infonation und Palatalität erfolgt.
10. Der Gebrauch des bestimmten bzw. unbestimmten Artikels in Zusammenhang mit den neuen Termini ist nicht der einzige von der natürlichen Sprache herstammende Zug. Ein weiterer und in diesem Zusammenhang sehr wesentlicher Zug ist der, dass mit demselben Appellativ sowohl die Menge selbst wie auch das Element der Menge als zu dieser Menge gehörig bezeichnet wird. In seinem oben zitierten Beitrag Uber den Begriff des Lautes" äusserte sich Alfred Schmitt schon 1938 über die von ihm erwähnten Sprechlaute und Sprachlaute und sagte: Diese Zweiteilung verdoppelt sich nun aber sofort dadurch, dass jeder denkbare Begriff [dieser Ausdruck, so gewöhnlich er ist, ist falsch: ein Begriff kann niemals eine Bezeichnung für etwas sein; vielmehr müsste von Wörtern, u.zw. von Appellativen gesprochen werden] zugleich auch als Bezeichnung für eine in ihn hineingehörende Einzelgrösse verwendet werden kann. Wenn ich z.B. sage: Der Hund scheint das älteste Haustier zu sein", so meine ich das Wort als Begriff [müsste heissen: mit dem Wort Hund den Begriff Hund]. Sage ich dagegen: Der Hund hat mich gebissen", so meine ich diesen Begriff als Bezeichnung für ein bestimmtes einzelnes Tier [einfacher: meine ich ein bestimmtes einzelnes Tier]. Genau so steht es mit dem Wort Laut". Wenn ich etwa sage: Die auf jener Schallplatte aufgenommene Sprechäusserung ist mir unverständlich; ich glaube aber von Zeit zu Zeit die Wiederkehr dieses oder jenes Lautes festzustellen", so verwende ich das Wort Laut" (genauer konnte ich sagen: Sprechlaut") als Begriff. Sage ich degegen: Die Wiedergabe ist im allgemeinen ausgezeichnet zu verstehen, aber dieser oder jener Laut in diesem oder jenem bestimmten Wort ist nicht klar zu erkennen", so verwende ich den Begriff Laut" [muss sein: das Wort Laut"] als Bezeichnung für eine bestimmte Einzelerscheinung. Man konnte im ersten Fall von einer Sprechlaut-Klasse reden, im zweiten Fall von einem Sprechlaut- Individuum."
11. Sowohl Phon als Phonem sind Appellative der natürlichen Sprache und auch sie werden, wie man sich denken kann, als solche benutzt drücken also sowohl Mengen wie Elemente derer aus. Wird ein Teil eines Redestromes benannt, so geschieht dies immer so, dass die Menge erwähnt wird, zu deren Element das betreffende Segment gezählt wird. In Sätzen wie Das Anfangssegment des Wortes Phon ist ein Phon f" oder Das erwähnte wahrnehmbare Wort entbält drei Phone: f, o und n" sind mit dem hier vorkommenden Phon beim ersten Beispiel ein Element der f- Menge, beim zweiten die verschiedenen Elemente der Phonmenge gemeint. Im Satz Das Anfangssegment des akustischen Wortes Phon ist ein Phon, der zu den Konsonanten gehört", wird mit Phon eine Menge bezeichnet.
Die hier behandelte Eigenschaft von Appellativen der natürlichen Sprache fällt selbstverständlich auch jenen anderen Termini zu, die als Synonyme von Phon" verwendet werden.
12. Das Obengesagte bezieht sich auch auf das Phonem. Auch dieses Wort ist Appellativ und unterliegt somit den üblichen Gebrauchsregeln der natürlichen Sprache, wonach es also sowohl als Benennung einer Menge als auch Benennung eines Elementes einer Menge auftreten kann. Wenn Bertil Malmberg (op. cit. S. 43) sagt: Linguistiskt kan man inte... sönderdela det tjeckiska krk i mer än tre delar. Det finns där tre fonem, varken mer eller mindre", so verwendet er den Terminus Phonem ebenso, wie man ihn als ein Wort der natürlichen Sprache benutzen kann. Der Terminus Phonem ist in den letzten Jahrzehnten vielfach zur Bezeichnung der kleinsten distinktiven sprachlichen Einheit herangezogen worden, doch gibt es mehrere Varianten der Definition (Pei hat vier Definitionen in sein Wörterbuch aufgenommen, Ahmatova gleichfalls vier). Zweifellos wäre es das Einfachste, Phonem als einen Terminus zu betrachten, der anstelle des altvertrauten Sprachlautes gewählt worden ist. Alle beide, das Phonem und der Sprachlaut, bezeichnen gewisse Mengen (wie z.B. /p/ oder /a/) und Elemente solcher Mengen (wie z.B. [p] oder [a]). Es ist leicht zu verstehen, dass der Terminus Phonem in Sprachen, die für Sprachlaut" keine besondere Bezeichnung gehabt haben, sondern in denen das Wort das 'Laut' bedeutet, auch hierfür benutzt wurde (deutsch Laut, russ. zvuk, schwed. Ijud usf.), willkommen war. Da das Phonem ziemlich allgemein in der heutigen Sprachwissenschaft nur eine bestimmte Auswahl von Sprachlauten bezeichnet (nur diejenigen Sprachlaute, die funktional bedeutende und im System - der Sprache distinktive Einheiten darstellen), schlage ich vor, dass man solche Sprachlaute als Grundphoneme der betreffenden Sprache bezeichnet. Falls erwünscht, könnte man die ütrigen Teilmengen des Phonems Allophone nennen. Die Phoneme wären dann also teilweise Grundphoneme und teilweise Allophone.
13. Nachdem wir uns an den Gebrauch der natürlichen Sprache gewöhnt gaben, wissen wir ohne weiteres, wann von einer Menge und wann von Elementen dieser Menge die Rede ist. Eine Bezeichnung wie Phon vermag da nicht zu helfen; sie verschafft uns keine Klarheit über die Aussage. ITalls nun ausdrücklich nur über Mengen gesprochen werden soll, und falls eine Klarlegung dessen im betreffenden Zusammenhang von Nutzen ist, können Phoneme (Grundphoneme und Allophone) mit Längsstrich geschrieben werden (z.B. /a/). Wenn es nur um das Element einer Menge geht, können eckige Klammern benutzt werden (z.B. [a]). Aber auch eine andere und im Hinblick auf die Systematik bessere Schreibart steht uns zur Verfügung. Zum erstenmal ist sie in dem Artikel Grundlegende Tatsachen der Worttheorie", Erkenntnis 1934, von A. Penttilä und U. Saarnio benutzt. Die Phonemelemente wären nach folgender Art zu schreiben: a 0t (zu lesen: a Null-t), á 0t (zu lesen: Lang-a Null-t), à 0t (zu lesen: halblanges a Null-t) usf. Eine Grundphonemmenge wäre zu schreiben a 1t (lies: a eins-t oder a erster Typ), b 1t, p 1t usf. Diesen Bezeichnungsarten wohnt nicht die Appellativ-Eigenschaft der natürlichen Sprachen inne, wonach sie sowohl Mengenbezeichnungen wie Bezeichnungen von Elementen wären. Einen solchen Gebrauch verhindert ihr Index, denn die Null verweist ja ausdrücklich auf die Realität, die 1 wiederum auf eine solche Menge, deren Elemente reale Gebilde sind. Die Systematik der Bezeichnung besteht darin, dass eine Bezeichnung gleichartiger Struktur benutzt werden kann, wenn man von Wörtern verschiedener Art spricht: von wahrnehmbaren Wörtern, von Wortformen und von flektierbaren bzw. unflektierbaren Wörtern. Soweit es sich um Phoneme handelt, benötigt man nur die Bezeichnungen für die wahrnehmbaren Phoneme und die durch sie gebildeten Mengen; schreitet man aber von den Phonemen zu Wörtern fort, so braucht man noch ein Zeichen für die Menge einer Mengenämlich für flektierbare und für nicht flektierbare Wörter. Hier eignet sich dann eine Kennzeichnung des Typs Wort 2t, sein 2t (lies: Wort zwei-t, sein zwei-t oder Wort zweiten Typs, sein zweiten Typs usf.). Die auftretenden Abstraktionsebenen treten also systematisch hervor: das flektierbare Wort Wort 2t entbält als Element u.a. die Wortform Wortes 1t, deren Elemente wiederum die realen Vorkommen des erwähnten Wortes Wortes 0t sind. Eine solche Bezeichnung ist auch in anderer Hinsicht systematisch, denn die Reihenfolge von Zahlteil und t ist ausserordentlich bedeutsam. Besteht die in unseren bisher gegebenen Beispielen aufgetretene Reihenfolge (Zahlteil zuerst), so handelt es sich stets um eine von den Scholastikern suppositio materialis genannte Erscheinung (leichtverständlich und ansprechend sind deren Grundzüge dargestellt von K. O. Erdmann in Die Bedeutung des Wortes", 2. Aufl. Leipzig 1922, S. 66), d. h., gemeint ist die Bezeichnung selbst oder die Mengen, zu denen sie als Bezeichnung gehört. Bei z.B. Wort 0t ist gemeint das reale Vorkommen eines Wort-Wortes (wie es auf dieser Seite mehrere gibt). Die Bezeichnung Wort 1t hat als designatum eine Menge, deren Elemente alle Nominative des Wort-Wortes sind. Die Elemente von Wort 2t sind alle Wortformen des Wort-Wortes (also Wort 1t, Wortes 1t usf.). Ein anderes Beispiel: Haus 0t, Haus 1t und Haus 2t. Werden Zahlenteil und t verschoben, so wird die Bedeutung der Zeichenkombination verändert. Es handelt sich nun nicht mehr um das betref fende Zeichen als ein Zeichen und folglich nicht um eine suppositio materialis, sondern um das designatum (das Bezeichnete) des betreffenden Zeichens als Bedeutung. So wäre z.B. Haus t0 ein reales Gebäude, und zwar eines, wie es mit den Elementen des Haus 1t am häufigsten gemeint ist. Entsprechend ist mit Wort t0 ein z.B. auf dieser Seite sichtbares Wort oder ein beim Lesen dieser Seite real wahrnehmbares akustisches Wort (z.B. Seite 0t oder sichtbares 0t) gemeint. Wort t1 bedeutet irgendeine Form irgendeines Wortes, z.B. dem Genetiv Hauses 1t oder einem 1t, Wort t2 bedeutet irgendein beliebiges, flektierbares oder nichtflektierbares Wort (z.B. sein 2t, jetzt 2t).
14. Aus Obengesagtem ziehen wir das folgende Ergebnis: Solange wir es mit Phonemen (und Graphemen und anderen mit ihnen vergleichbaren Gebilden) zu tun haben, dient die natürliche Sprache mit ihrem einzigen Terminus (Phonem, wenn die akustische Sprache behandelt wird, Graphem, wenn es sich um die geschriebene Sprache handelt) auf befriedigende Weise der Sprachwissenschaft, besonders wenn der Terminus Grundphonem (entsprechend Grundgraphem) zu Hilfe genommen wird. Eine faktische Präzisierung haben die neuen Termini wie Phon und Graph nicht erbracht, dagegen aber einige Erörterungen im Bereich der neuen Termini, unter welchen die unbezweifelbare Empirität der Sprachwissenschaft gelegentlich zu leiden hat. Die hier vorgebrachte Bezeichnungsart, die sich nicht an natürliche Sprachen anlehnt ist erst dann wirklich erforderlich, wenn man in der Sprachwissenschaft ausser Mengen und Elementen Mengen höheren Grades betrachten muss, d.h. solche, deren Element selbst schon Mengen sind. Dann ist die Bezeichnung mit Indizes (0t, 1t, 2t) notwendig. Sie ist aber anwendbar auch wenn von Phonemen (oder Graphemen) die Rede ist.
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