Linguistische Berichte 16,1971


Zur Grundlagenforschung der geschriebenen Sprache*)



Aarni Penttilä, Helsinki


Wenn die Sprachwissenschaft sich nun die Fachausdrücke Graph und Graphem zueigen zu machen versucht hat, so ist dabei als Zweck verfolgt, einerseits die realen und in Schrift sichtbar vorkommenden Einzeldinge (welche man für Graphen hält) und andererseits die sich in ihrem Gebiet bildenden Mengen (welche man als Grapheme bezeichnet) als verschiedene sprachliche Gegenstände auch terminologisch zu unterscheiden. Wenn man genau konsequent diesem Plan und dieser Terminologie folgt, so könnte man also sagen, dafs die Anzahl der Graphen auf einer Seite des Buches oder in einer Zeile zu errechnen ist, und notieren: auf dieser Seite oder in dieser Zeile gibt es so und so viele Buchstabengebilde, welche aus Tinte oder aus anderem Schreibmittel bestehen, und welche als verschiedene Gebilde sichtbar sind.

In der geschriebenen Sprache sind nicht alle sog. Graphen verschieden, sondern die meisten sind der optischen Form nach so ähnlich wie gewisse andere, daß man sie als gleiche, d. h. dafs man sie als Elemente ein und derselben Menge auffassen mufs. Diese sog. Graphen gruppieren sich auf Grund ihrer sichtbaren Formstruktur zu den Mengen, deren Anzahl in Vergleich zur Anzahl der Graphen—d. h. zur Anzahl der Elemente dieser Mengen—sehr klein ist. Wenn die Menge in der modernen Mengenlehre bezeichnet wird, so benutzt man in der Regel die geschweiften Klammern, zwischen denen die Bezeichnung des Elements der betreffenden Menge eingesetzt wird. Es sei nun die Menge dargestellt, deren Elemente ähnlich wie v sind. Ich kenne keine bessere Darstellungsart für die Charakterisierung der in die Realität gehörenden Sprachgebilde, als diejenige, die in dem schon oben erwähnten Artikel von mir und Uuno Saarnio in Erkenntnis (Bd. IV, 1934) das erste Mal benutzt ist. Nach dieser Darstellungsart wird also geschrieben v 0t, womit je ein einzelner realer, sichtbarer v-Buchstabe (hier also ohne Verwendung von < >) gemeint wird.')


*) Auszug aus der gleichnamigen Abhandlung (Acta Universitatis Upsaliensis, Acta Societatis Linguisticae Upsaliensis. Nova Series 2:2)

1) Einige v 0t bezeichnen (S) gewisse einzelne sichtbare v-Buchstaben, d. h. in Formel dargestellt wie folgt
v 0t S v t0
wobei v t0 der gemeinte Buchstabe v ist und v 0t der Buchstabe v, wodurch man ihn meint.
Das S macht die Relation des Meinens kenntlich.



Die Menge aller sichtbaren v Buchstaben Iässt sich nun auf folgende Weise darstellen:
{ v 0t } ,
wobei die geschweiften Klammern den Begriff der Menge charakterisieren. In der geschriebenen Sprache bilden solche Mengen einige zehn, und die logische Summe von allen diesen Mengen ist das Graphem, d. h. in der Formelsprache dargestellt wie folgt:
{ a 0t } U { b 0t } U { c 0t } U...U { ()0t } U { ? 0t }
U { ! 0t ) =Graphem
wobei das Zeichen U die logische Summe oder Vereinigungsmenge charakterisiert.

Jeder von diesen Summanden ist ein Graphem und zugleich eine Teilmenge der Menge Graphem (= das Gebiet des Begriffes Graphem). Es ist die Rede von diesen Teilmengen, wenn man die Mehrzahl des Wortes Graphem verwendet. Man verwendet auch von den Elementen dieser Menge das Wort Graphem.

Wie schon gesagt wurde, gibt es in jeder geschriebenen Sprache nur einige zehn Grundgrapheme, d. h. Teilmengen des Begriffes Graphem. Die Anzahl der Grapheme ist offensichtlich sehr gering im Vergleich zu der Anzahl der Elemente der Grapheme (d. h. mit der Anzahl der sog. Graphen, deren Anzahl stets mit der Zeit größer wird). Aber neben den Grundgraphemen kann es natürlich auch noch weiter viele andere Grapheme geben, u. a. solche, deren Leseart in engeren Grenzen bestimmt ist als die Leseart der gewöhnlichen Grapheme. Diese Grapheme bilden die Transkriptionen, welche bekanntlich von verschiedenen Genauigkeitsgraden sind.

Die folgende wichtige Feststellung besteht darin, daß, obgleich es Zweck der modernen Sprachforschung ist, die terminologische Überprüfung durchzuführen und zu versuchen, die Elemente der Menge und die Menge getrennt zu halten, (jene also als Graphen und diese als Grapheme), dabei die Tatsache des Sprachgebrauchs zu bemerken ist, daß der alltägliche Sprachgebrauch sich gegen eine solche Art und Weise der Darstellung der Sachverhalte sträubt und diesen Versuch unbedingt umstürzt. Denn der alltägliche Sprachgebrauch bezweckt nämlich mit den Vorkommnissen desselben Appellativs bald die Mengen (Begriffe) bald ihre Elemente (d.h. Dinge, denen dieser Begriff zukommt). Darum: wenn eine Menge von sog. Graphen Graphem heißt, so heißen notwendig auch die sog. Graphen Grapheme, und umgekehrt: wenn die Elemente einer Menge Graphen heißen, so heißt auch die Menge selbst Graph.

Wir wollen den Gebrauch des Wortes Buchstabe etwas näher betrachten. Dieses Wort gehört in den alltäglichen Sprachgebrauch und ist jedermann gut bekannt. Man benutzt „Buchstaben" z. B. in folgenden Sätzen als Bezeichnung einer Menge: Die Buchstaben bilden den wichtigsten Teil des Buchstabenschriftsystems/ In dem schwedisch-finnischen Alphabet gibt es 28 Buchstaben / Der Buchstabe k hat die Eigenschaft, daß er im Finnischen nicht vor n vorkommt / Eine Eigenschaft der Buchstaben ist die Frequenz / Den ersten Buchstaben des Alphabets nennt rnan a. Es ist aber auch ebenso bekannt, daß man mit dem Wort Buchstabe—genau wie mit den anderen Appellativen—sehr oft reale und sichtbare Dinge kenntlich macht, also in diesem Fall etwas~irgendeine~jede gewisse sichtbare~eine bestimmte Figur~ alle bestimmten sichtbaren Figuren~die bestimmte Figur. Es ist zu bemerken, daß man von keinem Gegenstand sprechen kann, ohne von den Begriffen bzw. von den Mengen vermittels der Appellative Gebrauch zu machen. Ein Ausdruck enthält immer, wenn man ein Appellativ benutzt, auch den Ausdruck einer Menge (bzw. eines Begriffes). In solchen Sätzen wie: Hier fehlt ein Buchstabe / Hier kommt ein falscher Buchstabe vor / Hier muß der Buchstabe k sein / Der Maschinenschreiber hat 200 Buchstaben in der Minute geschlagen / Peters Buchstaben stehen schräg nach rückwärts / In der Zeile gibt es 65 Buchstabenplätze / kommen nur reale Gebilde in Frage, von denen zugleich gesagt wird, daß sie Elemente einer Buchstabenmenge sind. Auch dann, wenn das Wort Buchstabe für die erwähnten realen Gebilde verwendet wird, wird zugleich eine Menge vorausgesetzt, in die diese Gebilde als Elemente gehören, und die mit dem Wort Buchstabe kenntlich gemacht wird. Ebenso verhält es sich mit dem Wort Graph, denn bei der Anwendung dieses Wortes wird auch eine Menge vorausgesetzt, die mit dem Wort Graph benannt wird, und in die alle Graphen als Elemente gehören.

Aus dieser Eigenschaft der natürlichen Sprache folgt notwendig, daß auch der neue Fachausdruck Graph (und seine anderen möglichen Entsprechungen) nicht das ausschließlich bezeichnen kann, was man damit zu bezeichnen bezweckt hat. Man wird genötigt sein, von ihm so wie von den anderen Appellativen Gebrauch zu machen. Dieser Fachausdruck enthält dann auch die Mitteilung, daß die schwarzen Figuren, von denen man mit seiner Hilfe spricht und von denen oben ein v 0t als Beispiel erwähnt wurde, Graphen sind, d. h. Elemente gewisser Mengen von Graphen. Diejenigen anderen schwarzen Figuren—wie die erwähnte—, die zu identifizieren sind, sind auch Graphen, d. h. Elemente gewisser Mengen von Graphen: a 0t, b 0t, c 0t usw. Diese gehören als Elemente in die Mengen von Graphen:
{ a 0t ), { b 0t }, { c 0t } ,...
Die Menge, die diese alle als Teilmengen enthält und die auch Graph heißt, ist die folgende Menge:
{ a 0t } U { b 0t ) U { c 0t } U...
{ () 0t } U { ? 0t } U { ! 0t },
die—wie wir oben gesehen haben—auch Graphem heißt. Dieser neue Fachausdruck Graph erfüllt offensichtlich nicht den gewünschten Zweck, da auch ein anderer älterer Fachausdruck, nämlich Graphem, natürlich auch wie ein gewöhnliches Appellativ und also genau wie das Wort Graph gebraucht wird.

Das Wort Graphem ist ein brauchbarer Fachausdruck schon aus diesem Grunde, daß die Sprachforschung früher keinen so geschickten, vereinigenden und sich der übrigen Terminologie zuordnenden Fachausdruck gehabt hat, dessen Geltungsbereich sowohl die Buchstaben als auch alle üblichen zahlreichen Hilfszeichen enthalten hätte. Es liegt vielleicht Grund vor, diese Funktion des Wortes Graphem zu betonen, weil auch ab und an solche Auffassungen vertreten werden, daß die Grapheme bloß Buchstaben sind (zuletzt H.A.Koefoed a.a.O. S. 12).

Das endgültige Ergebnis der die Graphen und Grapheme betreffenden Behandlung ist, daß die Sprachwissenschaft offensichtlich anstelle der oben geschilderten Art von einer exakteren Methode Gebrauch machen sollte, um den Unterschied zu beherrschen, wonach durch die Anwendung der Fachausdrücke Graph und Graphem gestrebt wird, um also gewisse Zeichenmengen und ihre Elemente terminologisch auseinander zu halten. Dieser Unterschied wird vermittels der Ausdrücke
Graphem t0 und Graphem t1
exakt beherrscht. Jener bezeichnet je ein Element einer Graphemenmenge (z. B. v 0t) und dieser je eine Graphemmenge (z. B. v 1t). Wenn man sicher sein könnte, daß in einem solchen Fachwort wie Laufgraphem (im Deutschen, löpgrafem im Schwedischen) der erste Teil (Lauf-,löp-) den Index t0 in jeder Hinsicht ersetzte, so wäre es auch möglich, von Laufgraphemen und Graphemen zu sprechen.